Ponymomente - Momente für dich

Der alternative Weg mit Pferden

Monat: Januar 2019

In jedem Pferd steckt ein Tänzer

Oder: Warum Spiel und Spaß der Schlüssel zum Erfolg sind

An einem verschneiten Nachmittag im Januar machte mir Scarlet ein unglaubliches Geschenk: Einige annähernd perfekte Piaffe-Tritte. Mit angehobenem Rücken, Gewichtsverlagerung auf die Hinterhand, gebeugten Hanken und aufgerichtetem Hals. In völliger Freiheit. Ohne, dass ich danach gefragt habe. Oder überhaupt daran gedacht hätte. Denn betrachtet man ganz nüchtern unseren Ausbildungsstand, so sind wir eigentlich noch meilenweit von einer Piaffe entfernt. Wie ist es also möglich, dass Scarlet sie dennoch zeigt? Weil in jedem Pferd längst das steckt, was wir glauben, ihnen lernen zu müssen. Es liegt an uns, eine Umgebung und ein Klima zu schaffen, in dem das Pferd sich frei entfalten und zum Tänzer werden kann. Wie das gelingen kann, erfährst du in diesem Beitrag.

Mit Spiel und Spaß zum Erfolg.

Von Kindern und Pferden, deren Potentiale unerkannt blieben

Zunächst möchte ich dir zwei kurze Geschichten erzählen

Die erste handelt von Max, einem kleinen Jungen, der nie besonders gerne in die Schule gegangen ist. Nicht, dass er nicht gerne gelernt hätte. Nur hatte er einen Lehrer, dessen Bestreben einzig und allein darauf lag, die sehr talentierten Kinder zu fördern und zu diesen zählte Max in seinen Augen leider nicht. Max‘ Potentiale blieben unerkannt, er verlor stetig an Selbstvertrauen und fand sich schließlich damit ab, dass er eben dumm ist und es nie zu etwas bringen würde. Bis er eines Tages in eine eine andere Schule wechselte. Hier hatte er eine Lehrperson, die bemüht war, die Potentiale jedes Kindes zu erkennen und bestmöglich zu fördern. Max erkannte dank dieser Lehrperson, dass er ein höchst talentierter Zeichner ist, gewann wieder an Selbstvertrauen und Lebensfreude und ist heute anerkannter Künstler.

In der zweiten Geschichte geht es um Lilly, eine unglaublich brave, gutmütige Stute, die stets bemüht ist, ihrem Menschen zu gefallen und das beste für ihn zu geben. Leider ist sie aber nicht mit den herausragenden Gängen eines eigens für die Dressur gezüchteten Pferdes gesegnet, weshalb ihr Besitzer, ein begeisterter Turnierreiter, beschließt, sie zu verkaufen und sich stattdessen ein – in seinen Augen – besseres Pferd zuzulegen.

Ob die Geschichten wahr sind und ich wirklich einen Max und eine Lilly kenne? Wer weiß. Vielleicht kennt ihr aber ähnliche Geschichten, sei es von Kindern, deren Potentiale unentdeckt blieben, oder von Pferden, die den Vorstellungen ihrer Besitzer nicht entsprechen und deshalb durch ein scheinbar besseres ersetzt wurden. Vielleicht erkennt ihr auch die Parallelen zwischen den beiden Geschichten, zwischen den Situationen, in denen sich Lilly und Max befinden.  Was ich mit diesen Geschichten verdeutlichen wollte:

Potential steckt in jedem Menschen, genauso wie in jedem Pferd.

Potential steckt in jedem Pferd.

Kann oder macht ein Pferd etwas nicht, dann zeugt das nicht von seinem Unvermögen, sondern vom Unvermögen des Reiters, es ihm auf angemessene Weise verständlich zu machen und die Potentiale des Pferdes zu fördern. Ich lade euch hier und jetzt ein, alles zu vergessen, was ihr jemals von guten oder schlechten Pferden gehört habt, und euch mit mir gemeinsam auf eine spannende Reise zu begeben.

Was wir von spielenden Pferden lernen können

Unsere Reise beginnt auf einer Koppel, auf der freie Pferde ihrem pferdigen Alltag nachgehen. Grasen, Wasserstellen aufsuchen und hin und wieder miteinander toben und spielen. Beobachten wir sie eine Weile, werden wir feststellen, dass sie während dieser Spiele oftmals eben jene Leichtigkeit und Anmut und jene beeindruckenden Bewegungen zeigen, um die wir uns am Reitplatz oft vergeblich bemühen. Faule Pferde können plötzlich galoppieren, steife Pferde werden zu fliegenden Gummibällen, ängstliche Pferde strotzen plötzlich vor Selbstbewusstsein. Warum ist das so?

Weil Spielen eine intrinsisch motivierte Handlung ist. 

Spielen ist eine intrinsisch motivierte Handlung.

Was bedeutet „Intrinsische Motivation“?

In aller Regel werden Handlungen vollzogen, weil erwartet wird, dadurch ein Ziel zu erreichen, eine Belohnung zu erhalten oder eine Bestrafung zu vermeiden. Diese Handlungen werden als „extrinsisch motiviert“ bezeichnet,  weil die Beweggründe von außen, also extern, zugeführt werden. Die Handlung ist ein Mittel zum Zweck.

Es gibt aber auch Handlungen, deren Ausführung an sich schon als Belohnung empfunden wird, weil sie Freude bereiten, gute Gefühle hervorrufen, Interesse wecken etc.  und mit denen kein weiteres Ziel verfolgt wird. Diese Handlungen sind dann „intrinsisch motiviert“.

Um das ganze leichter verständlich zu machen, möchte ich ein Beispiel anführen: Liest man ein Buch, um im Anschluss eine Prüfung darüber zu schreiben, ist die Handlung des Lesens extrinsisch motiviert. Liest man das Buch aber, weil man es spannend findet und es einen mit Freude erfüllt, ist die Handlung des Lesens intrinsisch motiviert.

Bei Pferden verhält es sich nicht anders, auch sie können extrinsisch und intrinsisch motiviert sein. Im Training werden in aller Regel zwei Methoden angewandt, um Pferde zu einer Handlung zu bewegen. Entweder sie werden (steigendem) Druck ausgesetzt, den sie nur durch ein bestimmtes Verhalten beenden können, oder sie erhalten im Anschluss an eine Lektion ein Leckerli. In beiden Fällen ist das Pferd extrinsisch motiviert, der Grund für ihr Handeln wird von außen zugeführt. Beides funktioniert, beides kann aber auch an Grenzen stoßen. Nämlich dann, wenn das Pferd entscheidet, dass die Belohnung die Anstrengung des Verhaltens nicht wert ist.

Futterlob, genauso wie Druck, führt zu extrinsischer Motivation: Das Pferd zeigt eine Handlung in Erwartung auf eine Belohnung. (Foto: Lydia Rinner)

Hier setzt die Intrinsische Motivation an. Schaffen wir es, das Pferd sozusagen in den „Spiel-Modus“ zu versetzen, wird es nicht mehr darüber nachdenken, ob eine Bewegung anstrengend ist oder nicht. Wenn sie sich gut anfühlt, Freude und Glückszustände bereitet und sich das Pferd stolz und erhaben fühlt, wird sie gezeigt. Weil sie für das Pferd selbstbelohnend geworden ist. Und aus eben jenem Gemisch von positiven Gefühlen wie Stolz, Freude und Selbstbewusstsein entspringen die unglaublichsten Bewegungen.

Wo Ernst und Zwang durch Spiel und Spaß ersetzt werden, beginnt der Tanz. 

Weil Lektionen wie Piaffe, Passage, Levade völlig natürliche Bewegungen des Pferdes sind – sie sind Ausdruck seines Stolzes, Freude, Spiellust, Selbstdarstellung- und Präsentation.

Wo Ernst und Zwang durch Spiel und Spaß ersetzt werden, beginnt der Tanz.

Wie schaffe ich es, mein Pferd intrinsisch zu motivieren?

 🦄 Über Extrinsinsche zu Intrinsische Motivation

Da ein Pferd selten von Anfang an den Wunsch verspüren wird, mit uns zusammenzuarbeiten, werden wir zu Beginn nicht drum herum kommen, es extrinsisch zu motivieren. Ich kann hier empfehlen, mit Clicker und Leckerlis zu arbeiten. Warum? Weil die Handlung dann mit etwas positivem (Leckerlis) verknüpft wird und das Pferd bei jedem Click mit einem Gefühl von Stolz auf sich selbst durchströmt wird: „Juhu, ich bin toll, ich habe das Puzzle lösen können.“ Das hilft natürlich enorm, das Selbstvertrauen und die Freude des Pferdes zu stärken und damit auch seine Intrinsische Motivation, das Verhalten in Zukunft immer wieder zu zeigen. Ich würde nicht gänzlich ausschließen, dass das ganze auch unter Einsatz von moderatem, sanften (!) Druck möglich ist, allerdings wird es schwieriger, da die Handlung dann nicht schon mit etwas positivem belegt ist, sondern immer mit dem Gefühl von Zwang. Womit wir beim zweiten Punkt wären.

🦄 Autonomie und Freiwilligkeit 

Eine Voraussetzung für Intrinsische Motivation ist Freiwilligkeit und ein Gefühl der Autonomie, d.h. man kann selbst darüber entscheiden, ob man diese Handlung ausführt oder nicht. Das kannst du auch anhand deiner Erfahrungen überprüfen: Zu den Dingen, die dir wirklich Freude bereiten (z.B. Reiten 🙂 ), bist du wahrscheinlich nicht gezwungen worden. Genauso ist es bei unseren vierbeinigen Freunden. Nun wird es natürlich nicht immer möglich sein, dem Pferd volle Entscheidungsfreiheit zu geben. Aber es lohnt sich, dem Pferd genau zuzuhören und es nicht zu Dingen zu zwingen, von denen man genau merkt, dass das Pferd sie nicht machen möchte. Zudem kann man immer Settings einbauen, in denen dein Pferd wirklich frei entscheiden kann. Wie wäre es z.B. damit, eure gemeinsame Zeit hin und wieder direkt auf die Koppel oder in den Laufstall zu verlegen? So kann dein Pferd jederzeit gehen, wenn es keine Lust mehr hat. Und versprochen, es wird Lust haben – nicht immer, aber immer öfter, wenn es die Erfahrung macht, dass die Arbeit mit dir bereichernd und spannend ist 🙂

🦄 Spannende, sinnvolle und abwechslungsreiche Aufgaben 

Stell dir die Frage, welche Aufgaben IN DEN AUGEN DEINES PFERDES sinnvoll und spannend sind. Oftmals höre ich, wie Menschen sich darüber beklagen, dass ihr Pferd sich während der Freiarbeit selbstständig macht – nachdem sie es 10 Minuten um sich kreiseln haben lassen, weil sie freies Zirkel so toll finden. Vielleicht sieht es für uns Menschen toll aus, für das Pferd ist es nur eines: Langweilig, öde und oftmals auch noch schlecht für ihren Körper, da nicht auf Biegung und Stellung geachtet wird. Wie wäre es stattdessen mit Übungen, die die Kreativität, die Bewegungsfreude und Selbstbewusstsein  deines Pferdes fördern? Für die meisten Pferde ergibt es oftmals viel mehr Sinn, etwas nachzulaufen, etwas zu „jagen“. Der Einsatz von Spielzeug (alle möglichen Formen von Target, die mit Nase oder Bein berührt werden können, Poolnudel, Pylonen, Stangen … ) bringt willkommene Abwechslung ins Training. Außerdem bringt es mehr Spaß, mit seinem Menschen GEMEINSAM zu laufen, als sich von ihm jagen zu lassen. Beobachte dein Pferd genau und biete ihm die Möglichkeit, dir mitzuteilen, was ihm Freude bereitet und was es öde findet.

🦄 Bewegungspotential fördern 

Gemeinsames Spielen, besonders unter Einsatz verschiedener Spielsachen, fördern die Gymnastizierung und Athletik deines Pferdes. Unerwartete Wendungen, plötzliche Stopps, schnelles Wechseln der Gangart usw. fördern die Aktivität der Hinterbeine, die Beugung der Hanken, die Rückenaktivität usw. und machen dein Pferd damit auch selbstbewusster.

Gymnastizierung durch Spielen mit verschiedenen Utensilien.k

🦄 Bestrafung vermeiden 

Nichts ist so demotivierend und zermürbend für die Psyche wie Bestrafung, deshalb versuche diese zu vermeiden. Zeigt dein Pferd unerwünschtes Verhalten, frage dich nach den Ursachen – die zumeist beim Menschen liegen – und behebe diese. Fehlverhalten des Pferdes zu bestrafen und zu unterbinden ist Symptombekämpfung, nichts weiter. Kannst du an der Ursache gerade nicht viel ändern, biete deinem Pferd eine alternative Handlung an, die du dann bestärken kannst. So kannst du aus etwas Negativen etwas Positives zaubern.

🦄 Belohnen, belohnen, belohnen 

Du kannst dein Pferd gar nicht oft genug belohnen. Und zwar richtig, aus vollem Herzen und überschäumender Freude. Gib deinem Pferd das Gefühl, es ist ein Superstar. Genau das ist es nämlich auch 🙂

🦄 Und das wichtigste: Habe Spaß! 

Versuche allen Ernst und Stress zu vergessen und stattdessen bei dir selbst den ‚Spiel-Modus“ zu aktivieren. Sei verrückt, laufe, springe, lache, habe Spaß. Nichts motiviert ein Pferd mehr, sich seinem Menschen anzuschließen als seine eigene positive Energie und Lebensfreude. Und versuche nie zu vergessen:

Du und Dein Pferd, ihr müsst nichts, außer eine schöne Zeit miteinander haben. 

 

Du und dein Pferd müsst nur eines: Eine schöne Zeit gemeinsam haben.

Ich hoffe, ich konnte dir einige Anregungen mitgeben, wie wir uns das Spielverhalten und die Intrinsische Motivation im Training zunutze machen können und aus dem scheinbar untalentierstesten Pony einen wahren Tänzer machen können. Es steckt in jedem Pferd ❤️

Hast du weitere Fragen oder möchtest Unterstützung mit deinem Pferd, kontaktiere mich gerne.

Deine Tina

 

 

 

 

 

 

 

Und dann hat es CLICK gemacht…

Über die Positive Verstärkung und wie sie uns verändert hat

Ich möchte euch mitnehmen an einen warmen Frühlingstag vor fast drei Jahren. Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel, die Vögel zwitschern, ich bin guter Dinge. Der perfekte Tag, um etwas Freiarbeit mit meinem Pferd zu machen. Denke ich. Scarlet sieht das anders. Für sie ist es der perfekte Tag, um sich am Rand des Reitplatzes, im Schatten der Bäume, einen guten Platz zu suchen, um an Gräsern, Büschen und Ästen zu knabbern. Keine Spur von Interesse, mit mir gemeinsam an irgendetwas zu arbeiten. Ich spüre Ärger und Enttäuschung in mir aufsteigen und beginne mit dem so genannten „Join-up“. So ganz richtig fühlt sich das zwar nicht an und ich habe irgendwie ein mulmiges Gefühl im Bauch, aber als langjährige Natural Horsemanship-Anhängerin habe ich es eben so gelernt und weiß auch nicht, wie ich anders handeln könnte. Schließlich möchte ich ja, dass sich mein Pferd mir anschließt und dazu muss ich eben demonstrieren, dass ich ranghöher bin, dass ich das Leittier bin, muss Dominanz ausstrahlen und Respekt einfordern. Oder?

Kann der Mensch ein Leittier sein?

Heute weiß ich: NEIN, muss ich nicht. Und eigentlich sollte die Frage nicht lauten, ob ich ein Leittier sein muss, sondern ob ich überhaupt ein Leittier sein KANN. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien (hier zum Nachlesen) lassen darauf schließen, dass eben dies NICHT möglich ist. Zum einen deshalb, weil die Rangfolge in einer Pferdeherde längst nicht so starr festgelegt ist, wie lange Zeit angenommen wurde, sondern von Situation zu Situation variieren kann und beeinflusst wird von äußeren Ressourcen (Menge an Futterplätze, Wasser, Schlafplätze, etc.) und Freundschaften zwischen Pferden. Zum anderen aufgrund der simplen Tatsache, dass ich kein Leitpferd sein kann, wenn ich nicht einmal ein Pferd bin. Rangfolge zwischen verschiedenen Spezies ist schlicht und einfach nicht möglich. Und selbst wenn, was wäre ich für ein komisches Leittier, das sich von 24 Stunden am Tag 23 nicht bei seiner Herde aufhält? Ich glaube kaum, dass mich irgendein Pferd auf dieser Welt als Leittier anerkennen würde. Erteile ich also nonstop irgendwelche Befehle, wirke ich auf mein Pferd nicht wie ein starkes, souveränes Leittier, sondern wie ein nerviger Kontrollfreak, der immer seinen Kopf durchsetzen möchte, nicht bereit ist zuzuhören und dazu noch aussieht wie ein Raubtier. Nicht sehr vertrauenerweckend, oder?

Ich möchte für mein Pferd vor allem eines sein: Ein Freund, mit dem es gerne Zeit verbringt. (Foto: Irmi Roth)

Positive Verstärkung statt Dominanz

Aber zurück an jenen besagten Tag vor fast drei Jahren, an dem Scarlet mir die Augen öffnete, indem sie mir ziemlich deutlich den Mittelhuf zeigte.  Anstatt sich mir anzuschließen, zerriss sie kurzerhand die Zäune des Reitplatzes und galoppierte wie verrückt zurück zum Stall. Es folgte eine harte Zeit, in der ich viele Tränen vergoss und noch mehr gut gemeinte Ratschläge erhielt. Von „Nimm sie zurück ans Seil und kläre da, wer der Boss ist“ bis „Setz den Zaun vorübergehend unter Strom, damit sie merkt, dass es keinen Ausweg gibt“ war alles dabei. Und nichts davon fühlte sich richtig an. Alles, woran ich geglaubt hatte, wurde auf den Kopf gestellt, ich konnte nicht mehr an den Methoden des Natural Horsemanship festhalten, da sie offensichtlich nicht das halten, was sie versprechen und was ich mir immer gewünscht hatte: Ein Pferd, das gerne und freiwillig mit mir arbeitet, nicht, weil es sich dazu gezwungen fühlt. Die gute Beziehung, die ich glaubte zu meinem Pferd zu haben, erwies sich als gar nicht so gut. Also begann ich nach Alternativen zu suchen. Ich verschlang Internetbeiträge, Bücher und DVDs und stieß schließlich auf die Positive Verstärkung und das Clickertraining. Und damit sollte sich alles verändern, am meisten ich mich selbst.

Positive Verstärkung ist mehr, als Clicker und Leckerchen zu verwenden.

Nachdem ich das Gefühl hatte, genug Bücher gelesen und DVDs angesehen zu haben und alles wichtige über das Clickertraining zu wissen, wagte ich mich an die ersten Versuche am Pferd. Konditionierung auf den Clicker, Höflichkeitstraining und erste Spiele mit einem Target. Und es war genial. Nachdem Scarlet begriffen hatte, dass sie Leckerchen bekommt UND sogar aktiv durch ihr Handeln dazu beitragen kann, wann sie sie bekommt, war sie so motiviert und eifrig wie noch nie zuvor und wich mir nicht mehr von der Seite. Alles schien plötzlich zu funktionieren. Ohne Druck, ohne Zwang, es fühlte sich leicht und gut und traumhaft an.  Ich schwebte im siebten Himmel.

Das Spielen mit einem Target-Stick führt bei den meisten Pferden zu viel Freude und Motivation.

Bis zu dem Tag, an dem Scarlet irgendwann entschied, dass sie genug  Leckerchen hatte, sich umdrehte und wegging. Da stand ich, ratlos. Was macht man, wenn das Pferd Nein sagt und man keinen Druck anwenden möchte, um es doch zu einem Ja zu bewegen? Richtig, man kann gar nichts machen. Es ist sehr verführerisch, an diesem Punkt zur Gerte zurückzugreifen, sich zu denken: Ein bisschen Druck, ein bisschen nachhelfen, das wird doch erlaubt sein? Das war der Punkt, an dem ich begriff: Positive Verstärkung ist mehr, als einen Clicker und Leckerli zu verwenden.  Bis dahin war es leicht, auf Druck zu verzichten. Es funktionierte ja alles einwandfrei. Aber jetzt war der Punkt gekommen, an dem ich mich wirklich FÜR oder GEGEN die Positive Verstärkung entscheiden musste. Im Nachhinein kann ich sagen: Entscheidet man sich in dieser Situation dafür, jetzt und auch in Zukunft keinen Druck anzuwenden und das Nein des Pferdes zu akzeptieren, hat man eines der wohl größten Geschenke, die die Positive Verstärkung für einen bereithält, angenommen: Das Geschenk, ein ehrliches, authentisches, ungezwungenes JA des Pferdes zu bekommen zu können.

Positive Verstärkung bedeutet vor allem eines: Arbeit an sich selbst.

Bevor es soweit ist, musste ich allerdings noch einige „NEIN“ des Pferdes einstecken. Ich machte die Erfahrung, dass vor allem Pferde, die lange Zeit mit Negativer Verstärkung gearbeitet wurden, und, um es sehr drastisch auszurücken, „mundtot“ gemacht wurden, wie meine Scarlet, sich immer wieder vergewissern wollen, dass sie auch wirklich „Nein“ sagen dürfen. Für mich bedeutete das vor allem eines: Arbeit an mir selbst. Es bedeutete, viele meiner alten Glaubenssätze zu überdenken und durch neue zu ersetzen. Solche Glaubenssätze waren zum Beispiel:

Das Pferd muss immer tun, was ich sage.

Ich muss mich immer durchsetzen.

Ich muss immer die Kontrolle behalten.

Wenn ich meinem Pferd einmal erlaube, „Nein“ zu sagen, wird es immer „Nein“ sagen.

Ich muss ein Leittier imitieren.

Mein Pferd will mich verarschen.

 usw.

Für mich war und ist es teilweise immer noch schwierig, nicht in diese alten Denkmuster zurückzufallen und mir stattdessen bewusst zu machen: Das Pferd muss im Grunde NICHTS. Außer vielleicht alle acht Wochen zur Hufpflege und sich bei Bedarf tierärztlich behandeln lassen. Alles andere, was ich von meinem Pferd einfordere, dient meinem persönlichen Vergnügen. Es sind Geschenke meines Pferdes, die ich dankbar annehmen darf, aber nicht mehr erzwingen möchte. Wenn es etwas nicht machen möchte, dann hat es seine guten Gründe, es genau jetzt nicht zu tun. Vielleicht hat es jetzt in diesem Moment keine Lust dazu, genauso wie wir Menschen manchmal keine Lust haben, z.B. ins Kino zu gehen. Vielleicht ist etwas anderes gerade wichtiger oder interessanter. Vielleicht möchte es, kann die gestellte Forderung jedoch aus körperlichen Gründen nicht ausführen. Es bedeutet NICHT, dass das Pferd faul, stur oder bösartig ist. Und es bedeutet NICHT, dass es mich nicht liebhat. Das war der wohl schwierigste Prozess für mich: Es nicht persönlich zu nehmen, wenn das Pferd gerade keine Lust hat, mit mir zu arbeiten.  Ich fühlte mich dann oft traurig, verletzt, zurückgewiesen. Und es ist ok, sich so zu fühlen. Wichtig ist, sich von diesen Gefühlen nicht leiten zu lassen und dem Pferd trotzdem die Möglichkeit zu lassen, „Nein“ zu sagen. Und immer öfter erlebe ich Momente, in denen es sich gar nicht mehr schwer oder einschränkend anfühlt, das „Nein“ meines Pferdes zuzulassen, sondern wie eine große Erleichterung. Ich muss nicht mehr mit ihr kämpfen, muss nicht meinen Willen durchsetzen, muss nicht gegen sie arbeiten.

Freiheit. Das ist es, was ich in solchen Momenten fühle.

Dialog statt Monolog, Zuhören statt Reden – das ist mein Bestreben. (Foto: Lydia Rinner)

Dialog statt Monolog

Das bedeutet übrigens nicht, dass mein Pferd alles machen darf. Es bedeutet, dass es Vorschläge von mir ablehnen kann, „Nein“ dazu sagen kann. Und dass es eigene Vorschläge machen darf, auf die ich dann mit „Ja“ oder „Nein“ antworten kann. Es bedeutet, dass ich nicht pausenlos auf mein Pferd einrede und sage: Mach das, mach jenes, mach das nicht“, sondern dass auch mein Pferd zu Wort kommt. Dass wir einen DIALOG anstatt einem Monolog führen. Ich bezeichne es auch gerne als das (Wieder)Herstellen von Gleichberechtigung, die in vielen Beziehungen, in denen das Pferd immer gezwungen wird, „Ja“ zu sagen, verloren gegangen ist. Mein Pferd darf „Nein“ sagen, ich darf „Nein“ sagen. Und wir dürfen beide wirklich, echt, aus vollem Herzen „Ja“ sagen, in dem Wissen, dass auch ein „Nein“ akzeptiert werden würde.

„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.

Dieses Zitat von Jean-Jaques Rousseau trifft es meiner Meinung nach sehr gut. Soweit es die äußeren Umstände und die jeweilige Situation zulässt (und JA, es gibt auch Situationen, in denen es der Sicherheit wegen einfach nötig ist, ein „JA“ einzufordern, aber das sind Ausnahmesituationen), lasse ich meinem Pferd die Freiheit, nicht zu tun, was es nicht tun möchte.

Ein steiniger Weg, der es wert ist, gegangen zu werden.

Das klingt nach einer Menge Veränderungen, die vor allem in MIR stattgefunden haben. Und das war es erstmal auch. Ich bin vom Wesen her eine unheimlich emotionale, impulsive und ungeduldige Person, der er schwer fällt, ihre Gefühle zu kontrollieren und sie nicht über mein Handeln bestimmen zu lassen. Manchmal könnte ich immer noch einfach losschreien und heulen, wenn Scarlet wieder einmal schlicht „Nein“ sagt und manchmal frage ich mich auch, ob es das alles wert ist. Es war und ist noch immer ein weiter und nicht immer einfacher Weg, ABER er ist es sowas von wert gegangen zu werden. Ich habe ein Pferd, das laut wiehert, wenn ich in den Stall komme. Das mir beim Ausmisten nicht von der Seite weicht und sehnsüchtig darauf wartet, dass ich endlich Zeit für sie habe. Das zufrieden brummelt, wenn es weiß, dass es eine Lektion gut gemacht hat und gleich das Marker-Wort ertönt. Sie ist motivierter und hat mehr Freude an gemeinsamen Bewegungen – am Anfang vielleicht der Leckerchen wegen, aber immer öfter spüre ich, dass sie sich bewegt, weil sie sich bewegen WILL, weil es sich gut für sie anfühlt.  Sie ist stolzer und selbstbewusster. Sie bringt eigene Vorschläge mit ein, ist kreativer und probiert sich mehr aus.

Stolz und selbstbewusst durch Positive Verstärkung. (Foto: Irmi Roth)

Aber nicht nur deshalb bin ich froh, die Positive Verstärkung für uns entdeckt zu haben und den Weg auf mich genommen zu haben. Ich bin auch meinetwegen froh. Weil ich mich dadurch persönlich weiter entwickelt habe und immer noch tue und Dinge über mich selbst und über meine Umwelt gelernt habe, die mir auch im Alltag abseits der Pferde so viel weiterhelfen. Um es ganz drastisch zu formulieren: Ich würde sagen, sie hat einen besseren Menschen aus mir gemacht und ich bin unendlich neugierig, wohin uns der Weg noch führen wird.